In her own words...
Das Weisenhaus (Orphanotropium)
1963
Sechs Uhr und noch ist der Himmel heiter
da sitzen die Philosophen ihnen ist alles egal
während
von nahen Verwandten umringt
ein Mädchen-Leben auf heißen Kohlen gleißt
ein Sturm in Weiß mit etwas Rot
als Kontrast
als ruhestörender Lärm
als Hund welcher bellte im Bett
(es war als bellte die Nacht)
Nichts
niemand
wird diesmal mein Messer zerbrechen
kein Philosoph
und sei er noch so triefend von Tiefsinn und gelb von Rauch
kein Meeresgrund selbst wenn er singt
kein rasendes Kreisen im Kreislauf der Sterne
kein leeres Weiß auf leerem Schwarz
und keine Einzelrose
selbst keine Scholle vom nordischen Eismeer
kann meinem Messer etwas antun
meinem Palettmesser
(um dieses handelt’s sich, das ist doch
selbstverständlich )
Es kann unbekannte Namen
aus jedem Sprachbereich
blutlos aufschlitzen und zerschaben
oder falls mir ein solches Palettmesser fehlt
so kann ein Stücklein Eis es tun
Wie kann man Sprachen fließend sprechen
nicke mit dem Kopf
das trennt die Lunge von all dem bunten Marmor
im Mund
und das beweist daß du belesen bist
Rabenmutter Natur ich fordre dich heraus
hier ist mein Zeitvertreib
und dort dein eisernes Gedicht
welches das Wort für immer
mit eisernen Nieten schreibt
deine Gier dein Appetit verschlingen alles
alles alles außer dem Schöpfungsrausch
mein hoffnungsvoller Zeitvertreib hat ein Fenster
als Gesicht
durch welches wie Bettler am Weihnachtsabend
die Maden gierigen Blickes spähen
auf meine Ausgelassenheit auf meinen Sieg
auf mein schönes verhextes Haus
Anderswo ist selbst Salz
nicht mehr salzig
und Liebe ist nicht Liebeskummer
Künstler sind keine Künstler sie sind Mütter
totgeborener Bilder
finsterblickend und grimmig verteidigen sie ihre rechteckigen Jungen
die aus notwendigerweise kleineren Rechtecken gemacht sind
Mittlerweile bin ich
ein Nerven-Wrack geworden
bring mir ein Rätsel
zum-Frühstück
brich das Schweigen
beim Mittagessen
sitz nicht nur da
und träume
mit dem Träumen ist es aus
Bring mir bring mir
mein träumendes Abendessen
und eine gute Fee
mit einem Seitenstich
vom Lügen
wünschen sie irgendwelche Informationen?
gut
ich kann ihnen versichern daß es eine grausame Enttäuschung war
zu entdecken daß meine gute Fee keine Fee war
seitdem
habe ich nichts mehr mit ihr zu tun
Bring mir einen scheuen Hund
der mich all eine liebt
bring mir eine gescheite
Antwort
bequem in der Tasche zu tragen
bring mir ein Waisenkind
wir wollen unsere Noten vergleichen
in Dankbarkeit in Stachelschwein-Tee
in herausgeschleuderter Verachtung in himmelblauem Englisch
dieses Waisenhaus ist weit wie die Welt
wir singen hier alle (ein wenig falsch)
auf höheren Befehl
Bring mir heute Nacht einen Selbstmörder
ich will mit ihm reden
bring mir einen Vogel
der zu glücklich zum Singen ist
du könntest noch viele andere bringen
um mich zu erleuchten
denn mein Arm ist gebrochen leicht angeknackst
die Leinwand ist weiß, unbeschrieben
ein unversehrtes Geheimnis
Erkennungszeichen: mein Boot heißt: das verzweifelte D
es hat viele Knoten und klaffende Wunden
Land und Meer
und selbst der luftige Himmel erkennen es
an den Bildern die auf seine Segel gemalt sind.
About this work
This poem was published in German the catalogue for the exhibition "Dorothea Tanning: Bilder, Gouaches, Zeichnungen, 1957-1963" at Galerie der Spiegel, Cologne, June 14 - July 30, 1963.